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Die unerträgliche Verlassenheit und das Glück der Einsamen

Verlassenheit ist eines der mächtigsten Gefühle. Menschen, die verlassen werden, können derart erschüttert sein, dass sie ihr Leben nicht mehr auf die Reihe bringen. Eine alltägliche Routine kann dann derart motivationslos sein, dass sie beschwerlich oder gar unmöglich wird. Ein Gedankenkarusell setzt ein, das das Potential zur Autoaggression mit Selbstzerstörungstendenzen hat. Oft ist auch das Gefühl der Ablehnung anwesend: «So wie ich bin, bin ich nicht richtig». Diese Erkenntnis schmerzt zu tiefst. Ist dieser Satz noch eine tief eingegrabene Selbstdefinition aus der Kindheit, wird es noch schwieriger. Das Gefühl der Zugehörigkeit geht vollends verloren. Dass in der Verlassenheit jedoch auch eine Stärke liegt, ist in solchen Situationen kaum spürbar.

 

In meiner Arbeit als Gestalt- und Paartherapeut treffe ich oft auf Situationen, in der die Verlassenheit wie ein Monster droht. In solchen Momenten ist das Gefühl noch nicht wirklich vorhanden. Bereits die aufkommende Ahnung des Gefühls, kann zu einer inneren Starre führen und beeinflusst Menschen in ihrem Verhalten, meist verbunden mit einem Rückzug aus dem Kontakt mit einem Gegenüber. Beim näheren Betrachten des Gefühls zeigt sich, dass die Verlassenheit angebunden ist an den vorausgehenden Zustand der Bezogenheit. Ohne die Erinnerung an das Verbundensein und die noch vorhandene Sehnsucht danach, kann das Gefühl für sich alleine nicht existieren. Damit ist es vor allem ein reaktives Gefühl. Jemand in uns träumt immer noch den Traum des Verbunden-Seins.

 

Wenn wir es zulassen können, hier noch tiefer in die Verlassenheit einzusteigen, näheren wir uns der Einsamkeit. Ein neuer Gefühlsraum öffnet sich, der sich gänzlich anders anfühlt. Tief in der Einsamkeit verschwindet die Sehnsucht nach Bezogenheit und ein weiter, leerer Raum öffnet sich, dem Tode ähnlich. Während in der Verlassenheit der Körper noch mit Enge, Nervosität, sprunghaften Gedanken u.ä. reagiert (hauptsächliche Reaktionen des Sympathischen Nervensystems) tritt in der gefühlten Einsamkeit eine Wahrnehmung auf, die mit «nicht mehr im Körper existent» beschrieben werden könnte. Die inneren Mikrobewegungen werden kleiner, der Atem ist kaum noch spürbar, die Herzfrequenz sinkt (Dorsales Nervensystem). Treten hier Bilder vom Sterbebett auf, sind es Vorzeichen eines sich anbahnenden Friedens. Hier ist es unmöglich wieder zurück in den Zustand der Verbundenheit mit dem Alten zu kommen. Das Kämpfen um das Wegdrücken des Schmerzes, der den Zustand des Verlassenseins begleitet, ist weg. Etwas Körperliches oder Emotionales stirbt. Halten wir diesen Zustand lange genug aus und geben wir dem Körper die Gelegenheit, dass er sich von alleine neu ausrichten kann, übernehmen autonome Körperbewegungen die Führung. Eine zunächst zarte Glückseligkeit kann sich einstellen, die, sofern zugelassen, die Möglichkeit hat, mehr und mehr den Innenraum zu füllen. Der Atemraum weitet sich. Verengungen in Blutbahnen und Gelenken können sich lösen. Die Erfahrung mit diesem Prozess erlaubt eine neue Wahrnehmung der Welt. Der Mensch, der jetzt auf das Verlassensein schaut, ist nicht mehr der Mensch, der verlassen wurde. Hier beginnt der Aufstieg in eine neue Wirklichkeit, die zu einer neuen Freiheit des Ges»taltens führt.

 

Sind Menschen durch den Prozess der Verlassenheit gegangen, zur Einsamkeit durchgedrungen und haben der darin wohnenden Leere den Raum gegeben, wirkt die Organismische Selbstregulation[1]. Automatisch sucht der ganze Organismus nach Möglichkeiten, das neue Bedürfnis zu befriedigen.  Das Monster der Verlassenheit verschwindet. Der Schrecken verliert seine Macht.

 

Dieser Prozess findet sich in vielen Mythen beschrieben. Er wird auch als «der Abstieg in die Unterwelt», als «Tee trinken mit dem Teufel», in der Visionssuche als «Konfrontation mit dem Drachen» oder in der Heldenreise[2] als «Die grosse Prüfung» beschrieben. Allen gemeinsam ist das Erreichen des Ortes, an dem das Kämpfen aufhört. Ein Ort, an dem der Mensch bereit ist zu sterben und sich einer inneren Führung überlässt. Die Mythen schreiben von einer «göttlichen Führung».

 


[1] http://www.gestalttherapie-lexikon.de/selbstregulierung.htm

 

 

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